Magisches Oxford: keine Stadt für einen Tag
Es liegt ein grauer Spätsommertag über Oxford. Genau das richtige Wetter, um den Nachmittag im „Blackwell“ zu verbringen. 1879 richtete der religiöse Bookseller Benjamin Henry Blackwell in seinem Buchladen einige Räume ein, in denen „silent reading“ bei nichtalkoholischen Getränken möglich war. Zu dieser Zeit las man überwiegend laut vor. Heute gibt es im ersten Stock ein gemütliches Café, in dem man sich ein Buch nimmt, darin blättert, leise liest und es vielleicht dann doch nicht kauft. In alle 30 Bücher von Vidiadhar Surajprasad Naipaul kann ich hier hineinschnuppern, seine bekannt minutiös geschriebenen Szenen mitfühlen und die Welt der Karibik erleben. Auch in seinen drei Büchern über Indien eröffnet sich mir dieses mystische Land.
Ich bin in Oxford, um über Naipaul, diesen vielseitigen Schriftsteller mit der schwierigen Persönlichkeit, zu recherchieren. Hier im „Blackwell“ habe ich am Fenster meinen Lieblingsplatz gefunden. Von hier aus sehe ich hinunter in die Broad Street, auf den historischen Mittelpunkt Oxfords, die Bodleian Library und das Sheldonian. Hier werde ich in den folgenden Wochen viel Zeit verbringen. In einem abgegriffenen braunen Lederfauteuil bei Cappuccino und Brownies von Starbucks. Wenn es regnet, kann ich nur die Umrisse der Gebäude erkennen. Und es regnet sehr oft in Oxford.
An diesem Nachmittag bin ich umgeben von Studenten, die gedämpft auf ihren Notebooks klimpern, von weißhaarigen Professoren der umliegenden Colleges und Möchtegern-Schriftstellern, die in Oxford zu ihren Themen recherchieren. Einmal sitzt sogar Hillary Clinton, die ihre Tochter besucht, am Nebentisch. Und trotzdem gibt es Journalisten, die behaupten, die nächste Generation werde Bücher nur im Internet lesen! Not so in Oxford.
Ich frage mich, ob man in dieser Kaffeehaus-Atmosphäre mit angeschlossenem Buchladen nicht besser schreiben kann als in meiner Bed-and-Breakfast-Bleibe. Was ist den Wiener Kaffeehaus-Literaten nicht alles eingefallen? Bei meinen Recherchen in Sevilla, Paris und Oxford habe ich magische Orte gefunden, die mich immer wieder begeistert haben. In England ist es das „Blackwell“.
An diesem Nachmittag bleibe ich ungewöhnlich lange im „Blackwell“, da es „cats and dogs“ regnet und ich bei diesem Wetter nicht mehr in die Bibliothek des Rhodes House zurückkehren will, wo ich üblicherweise in dem sonnigen holzgetäfelten Erker meine Nachmittage verbringe. Der Erker in dem Saal mit den schiffsartigen Holzverstrebungen und den mit Bleibändern gehaltenen Fenstern ist ein weiterer Lieblingsplatz von mir.
Oxford ist keine Stadt für einen Tag. Hier muss man bleiben und eine Geschichte schreiben. Immer wenn ich am Wochenende mit dem Bus ins turbulente London fahre, bin ich am Abend froh, in das idyllische Old Headington heimzukommen, wo ich während meines Aufenthaltes in Oxford wohne. Es ist ein Stadtteil aus dem 17. Jahrhundert mit herrlichen 400 Jahre alten Bäumen. Das tägliche Aufwachen unter der alten Eiche, deren Zweige mein Fenster berühren, liebe ich besonders.
In meinem Bed & Breakfast umgeben mich altmodische Charaktere wie aus „Harry Potter“ mit einem speziellen Sinn fürs Familienleben. Gepaart mit dieser eigenartigen Mischung aus Höflichkeit und Offenheit einerseits und Distanz im nächsten Moment andererseits. Ich habe mir sagen lassen, dass dies nicht ein Zeichen von Interesselosigkeit oder gar Geringschätzung ist, sondern des Respekts vor der Persönlichkeit des Gastes, seinen Wünschen und eigenen Initiativen. Für meine Gastgeberin wesentlich ist jedoch, dass ich täglich mindestens einmal die neu aufgeblühten Rosen im Garten bewundern muss.
Ein kleiner „sitting room“ (kleiner als das Wohnzimmer im Shakespeare-Haus in Stratford-upon-Avon), Bathroom und Bedroom sind hier schon eine große Ausnahme und kosten ebenso viel wie meine grandiose Pariser Wohnung mit Blick auf den Dôme des Invalides. Mit ihren „paying guests“ finanziert Mrs. Jones schließlich ihr ganzes Häuschen. Über dem Bett hängen private Familienfotos, am Gang Klassenbilder in Schuluniform. Statt Mischarmaturen finden sich im Badezimmer immer noch Lowtech-Geräte: ein Wasserhahn für kalt und einer für heiß – Fingerverbrennen garantiert. In England ist schließlich nichts perfekt, besonders die kleinen Dinge des Alltags. Hier merke ich doch, dass ich ein Comfort-Lover bin. Alles ist basic. Die Küche bleibt auch nur für „light cooking“ offen. Das heißt: Fertiggerichte in der Mikrowelle. Bisher habe ich noch nicht herausbekommen, warum der Herd, der ohnedies so aussieht, als stamme er aus der Tudorzeit, nicht benutzt werden darf.
Wenn ich am Abend, oft bei leisem Nieseln, in mein stilles, verwunschenes Old Headington mit den alten Eichen und den grauen Steincottages zurückkomme, gehe ich an dem Nachbarhaus von Brian Aldiss, dem bekannten Science-Fiction-Autor, vorbei. Der alte Herr sitzt bis spät in die Nacht vor seinem Computer und der Schein des Screens beleuchtet sein weißes Haar. Wenn im Dezember der Nebel und der Regen über Oxford fallen, stelle ich mir vor, dass er einen Krimi schreiben wird: „Der Mörder von Old Headington“.
Die meiste Zeit verbringe ich jedoch im Indian Institute, in dessen Bibliothek ich viel über Naipaul finde. Die Dächer von Oxford, vom Indian Institute aus gesehen, muten mit ihren Statuen, ihren gotischen Spitzen und Türmen, ihren zu Stein gewordenen Kobolden und Fabelwesen, die in den grauen wolkenverhangenen Regenhimmel ragen, viel lebendiger an als die strengen klosterähnlichen, gotischen College-Gebäude. Fast scheint es so, als hätte man alles, was das harte Leben in den Colleges stören könnte, auf die Dächer verbannt.
Wenn der Regen die Dächer und Kuppeln sauber gewaschen hat, erscheinen sie wie in ein Silberbad getaucht und erhellen die dunklen Regenwolken. Ich beobachte ein rasch und stoßartig wechselndes Spiel von Wind und Wolken. Oxford hat vitale, aktive Wolken. Man spürt die Nähe des Meeres. Kein Ort Englands ist mehr als 150 Kilometer von der Küste entfernt. Plötzlich öffnet sich ein Fenster in den Wolken. Die Sonne vergoldet die geballten Wolken und lässt sie diffus wie auf einem Turner-Bild erscheinen.