Das Land der ernsten Gesichter
„Ich möchte euch gerne nach Bulgarien in meine Softwarefabrik einladen“, sprach Wilfried zu seinen Kommilitonen, die mit ihm einst an der Wiener Wirtschaftsuniversität studierten. Eine kleine Gruppe von 12 Studienfreunden trifft sich seit 20 Jahren jährlich an interessanten Orten zu einem Wirtschafts- und Kulturtag. Da fast alle in ihrem aktiven Leben interessante Tätigkeiten ausübten, gab es fast immer attraktive Programme. Diesmal ging es also nach Bulgarien. Am ersten Tag besichtigten wir die Softwarefabrik, die 1986, lange vor dem Eintritt in die EU 2007, gegründet wurde. In den Hallen arbeiteten vorwiegend Frauen, die Elektronikkomponenten zusammensetzten. Diese wurden weltweit an 300.000 Kunden geliefert.
Immer wieder versuchte ich herauszufinden, welche Veränderungen es durch den Beitritt in die EU gab. Die lange Geschichte Bulgariens hat mich weniger interessiert. Eine junge Frau, mit der ich eine Weile alleine im Besucherzimmer saß, vertraute mir an, dass jeder Mitarbeiter in der Halle 700 Euro im Monat verdiente. Ein Überbleibsel aus dem Kommunismus? Ob und wie man damit zurechtkam, erfuhr ich allerdings nicht. Ist das der Grund für die ernsten Gesichter, die mich zwei Tage lang umgaben? Am Kulturtag besuchten wir das Rila-Kloster, ein orthodoxes Kloster im südwestlichen Bulgarien. Über eine neue, nahezu leere Autobahn erreichten wir das im Wald liegende Kloster, das zum UNESCO-Welterbe gehört.
Untergebracht waren wir in großen Zimmern in einem amerikanischen Hotel mit einer vier Meter langen Fernsehwand, die ein bulgarisches und russisches Programm ausstrahlte. Das Essen war sehr üppig, mit vielen Fleisch- und Wurstplatten. In den Restaurants waren nur Delegationen zu beobachten. Am letzten Abend kehrten wir in das moderne Restaurant „Unica“ ein, in dem wir viele Prostituierte beobachteten. Sie alle mit ernsten Gesichtern.
Auch der Flughafen Sofia ist für eine Großstadt gebaut. Genau wie die Autobahnen. Von der EU natürlich.