Atlantiküberquerung Hamburg – New York: „Nüscht-Tun“ und unvergessliche Momente
Eigentlich bin ich eine passionierte Strandkorbhockerin, eine Vom-Land-ins-Meer-und-Wellen-Schauerin, eine Krebs-im-Sand-Beobachterin, also eine Strandhockerin und wenn möglich eine Strandläuferin. Die Zehen in den Sand eingraben, die Nase in den salzigen Wind halten. Die Augen erst einmal schließen und dem Rauschen der Wellen zuhören. Mein Sehnsuchtsort ist das Meer: die pure Entschleunigung.
Und doch war es viele Jahre lang mein Traum, einmal auf einem großen Passagierschiff über den Atlantik zu schippern. Obwohl ich mein ganzes Leben lang alle Ferry Boats im Ärmelkanal oder zwischen Bari und Korfu, zwischen Neapel und Ischia, Segelschiffe und Jachten von Freunden gemieden habe. Mag sein, dass dieser Traum, diese Sehnsucht nach der Weite des Meeres davon kommt, dass ich mich im Rahmen meiner Recherche zu Inca Garcilaso de la Vega viele Monate in Sevilla mit der Kolonisation der Spanier beschäftigt habe. Die Beschreibung der Seefahrten faszinierte mich, wenn ich täglich im Archivo de Indias alte Bücher wälzte. Damals reifte in mir der Entschluss, einmal mit einem großen Ocean Liner über den Atlantik zu fahren.
Nun liegt es mir fern, die in letzter Zeit übertrieben positiven Werbetexte für Kreuzfahrten in allen deutschen Zeitungen zu kommentieren. Schließlich muss man viel Promotion machen, um die riesigen Ocean Liner, die fast alle amerikanischen Reedereien gehören, mit nahezu 3000 Passagieren voll zu bekommen. Und die Erwartungen an das Leben auf See sind groß – auch meine.
Schon in den ersten Tagen stimmt uns der Captain durch seine Worte „This ship celebrates Britishness“ auf das Leben an Bord ein: wässriger Frühstückskaffee – ein Stewart aus den Philippinen versteckt für mich hinter der Maschine jeden Morgen einen Nescafé –, Lunch aus Gemüse und Roastbeef, High Tea im Queen’s Saloon und der britische Stecker in der Kabine, der es unmöglich macht, mein Handy aufzuladen. Basierend auf meinen Erfahrungen während meiner Recherchen in Oxford komme ich mit der englischen Lebensweise trotzdem gut zurecht. Da ich englische Lyrik so sehr schätze, besuche ich täglich Poetry- und Jazzveranstaltungen im überfüllten Wintergarten.
Die „Queen Mary 2“ soll wie ein Brett im Wasser liegen – vorausgesetzt, es kommt kein Sturm mit Windstärke 10 auf, wie ihn Captain Christopher Wells „from the bridge“ am vierten Tag der Reise ankündigt. Genau dort, wo die „Titanic“ untergegangen ist. Drei Tage lang torkeln wir also breitbeinig wie Seebären durch die Gänge zum Essen und können wegen des starken Windes auch nicht an Deck. Dicke Amerikaner, oft mit Rollatoren ausgestattet, wanken von einem Buffet zum anderen. Ein glatzköpfiger Engländer im giftgrünen Pullover rennt auf Deck 7 täglich hundert Mal um das Schiff, um fit zu bleiben. Aber auch die großteils aus Norddeutschland kommenden Sturmerfahrenen laufen stundenlang in festgezurrten Anoraks ums Schiff herum. Um sich vor den täglichen Regengüssen zu schützen, kauern die meisten Passagiere jedoch in den Salons und touchen auf ihren Handys und Tablets herum. Seit meiner Passage über den Atlantik mit der „Queen Mary 2“ weiß ich, wie anders das „Nüscht-Tun“, wie die Norddeutschen sagen, auf einem Ozeanriesen ist.
Auf den internationalen Wetterkarten ist mir schon immer aufgefallen, dass über dem Atlantik große weiße Regenspiralen zu sehen sind. Die türkisen Wellen am Heck des Schiffes kannte ich bisher nur von den riesigen Ölbildern im National Maritime Museum in London. Jetzt sehe ich sie in Natur. Sie heben sich von den dunklen, zehn Meter hohen Wellen am Horizont ab.
An einem Nachmittag, an dem es ausnahmsweise einmal nicht regnet und der Stuhl auf meinem Balkon trocken ist, schaue ich auf die dunklen Wellen am Horizont und in meinem Gedächtnis öffnet sich eine Reihe von „Erinnerungsfenstern“: Professor Jean Martin von der Pariser Sorbonne hatte mich in seine Privatbibliothek nach Versailles eingeladen. Wir wollten über die Rolle von England und Frankreich als Seemächte sprechen. „England hatte eine enorme Marine und konnte so über Jahrhunderte sein Empire aufbauen“, betonte Martin. „Die Schifffahrt hat für uns Franzosen niemals eine große Rolle gespielt. Die Engländer haben sich immer lustig gemacht über das große Barockschiff aus der Zeit Louis XIV., das so stark dekoriert war, dass es nach seiner Jungfernfahrt im Atlantik unterging. Frankreich war nicht dem Meer zugewandt. Die Franzosen haben Angst vor dem Meer. Sie wollen immer das Land im Rücken spüren“, erklärte mir Martin verschmitzt. Er redet gerne über den Unterschied zwischen Engländern und Franzosen. Als Bretone und Spezialist für den Kolonialismus weiß er viele lustige kleine Geschichten. Und immer wenn er über die Engländer spricht, kommt dann: „Britannia, rule the waves!“ Die Engländer mögen nicht nur das Meer – sie beherrschen die Wellen.
Ein neues Fenster öffnet sich in meinen Gedanken. Er spielte Kolumbus derart grandios, dass ich ihn immer in Erinnerung behalten werde: Gérard Depardieu. Beim Anblick der Wellen kann ich die Gefühle der meuternden Seemänner auf der „Santa Maria“ nachempfinden, die Kolumbus in seiner Navigationskammer bedrohten. Ich erinnere mich ganz genau an die Filmszene mit der Mücke auf seinem Handrücken: ein Zeichen, dass doch bald Land in Sicht sein sollte. Ich sehe Depardieu vor mir, wie er mit seinen schweren Lederstiefeln, begleitet von der religiös anmutenden, unvergesslichen Choral-Filmmelodie von Vangelis, den Sandstrand der exotischen Insel Guanahani betritt. Am 12. Oktober 1492. Ich empfehle allen, sich diese Szene einmal anzuschauen. Es war Depardieus größte Rolle.
Ein drittes Erinnerungsfenster öffnet sich beim Anblick der riesigen Wellen. Bei meiner Recherche für die Überfahrt des Inca von Lima nach Sevilla fragte ich Professor Luis Navarro, den ich von den Vorlesungen an der Universität kannte: „Wie lange fuhr man im 16. Jahrhundert von Havanna bis Sevilla?“ Alle Schiffe aus Lateinamerika mussten sich ja ab 1564 in Havanna aus Angst vor den Engländern zu einem Konvoi versammeln. Nun, beim Anblick der etwa zehn Meter hohen Wellen sehe ich ein, wie töricht meine Frage gewesen ist – wie sollte man bei den vielen Stürmen, zerfetzten Segeln und meuternden Mannschaften dazu überhaupt eine Aussage machen? Navarro sah mich dementsprechend auch verärgert an und verwies mich auf das zehnbändige Werk von Pierre Chaunu, „Séville et l’Atlantique“. Meine Antwort, dass ich nicht so viel Zeit hätte, um diese Information herauszusuchen, verärgerte ihn noch mehr. Ich konnte mir damals einfach nicht vorstellen, dass ein spanischer Professor, der neben seiner Lehre an der Universität in diesem Archiv tausende Briefe über die Überquerung des Atlantik las, mir aus dem Stehgreif keine Antwort geben konnte. Auch Professor Pérez Maillaina Bueno in seiner kleinen Kammer in der alten Zigarettenfabrik war immer ungehalten, wenn ich ihn über das Leben auf einem solchen Schiff befragte: Was hat man gegessen, was getrunken? Mit meinen journalistischen Fragen bin ich den Historikern, die im Archiv in Sevilla ohne jede Hektik unzähligen Menschenschicksalen nachgingen, schwer auf die Nerven gegangen. Dabei war Zeit im 16. Jahrhundert ohnedies unwichtig.
Aus diesen Erinnerungen holt mich die sonore Stimme unseres Captains über die Lautsprecher wieder in die Realität zurück. Er weist darauf hin, dass wir Deck 7 wegen des Sturmes nicht betreten dürfen.
Es ist vier Uhr früh. An einem Sonntag im Juni. Manhattan ist nicht so beleuchtet, wie ich es erwartet habe. Weil Sonntag ist? Oder sind es Sparmaßnahmen? Ich folge dem Menschenstrom auf Deck 11. Von dort aus soll man einen tollen Blick haben. Es regnet in Strömen. Schwarze Wolken liegen über der Stadt und dem 9/11 Memorial. Ernste Gesichter um mich herum deuten darauf hin, dass wir alle in diesem Moment an die zwei Flugzeuge denken, die in die beiden Türme geflogen sind. Das Ereignis, das die ganze Welt verändert hat. Die Freiheitsstatue auf der linken Seite der Einfahrt in den Hafen erscheint viel kleiner, als ich dachte.
Erst zur Mittagszeit können wir „Queen Mary 2“ in Richtung der Einwanderungshalle und der unzähligen Kontrollen verlassen. Im Prospekt lese ich immer wieder, dass eine Schiffsreise „slow travelling“ bedeutet. Was werde ich zu Hause antworten, wenn mich Freunde und Bekannte fragen, wie es auf dem Schiff gewesen sei? „Ich wollte schon immer einmal eine Schiffsreise machen!“, wird wohl meine ausweichende Antwort lauten.
Und doch muss ich zugeben, dass die majestätische Ausfahrt eines der größten Passagierschiffe der Welt um Mitternacht aus dem Hamburger Hafen mit den vielen tutenden Begleitbooten, der englischen Hymne und dem Bordorchester wie auch die stille Einfahrt in den Hafen von New York frühmorgens unvergessliche Momente in meinem Leben bleiben werden.
Musik von Harald Oberlechner, Professor am Mozarteum Salzburg und Konservatorium Innsbruck
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